Geschützarmierung [2]

[314] Geschützarmierung. Die Geschützarmierung der Linienschiffe (s. Geschützarmierung Bd. 4, S. 420) und die hieraus sich ergebende Typenentwicklung der Schlachtschiffe hatte sich um die Jahrhundertwende in allen Marinen allmählich einem Normallinienschiffe genähert, welches neben einer Armierung von vier schweren Geschützen von 28 bis 30,5 cm Kaliber eine starke Mittelartillerie aus Schnellfeuerkanonen von 14 bis 21 cm Kaliber, vereinzelt auch ein Zwischenkaliber von 21 bis 25 cm und schließlich eine zahlreiche leichte Artillerie auf weist.

Die Erfahrungen des Russisch-Japanischen Krieges 1904/05 lenkten die Gedanken auf eine möglichst hohe artilleristische Kraftkonzentration verbunden mit der Erzwingung einer Fernkampfentscheidung, für welche eine an Zahl wachsende Armierung von Geschützen schwersten Kalibers als Grundlage diente. Denn die schwere Artillerie zeigte sich allein allen Anforderungen der Tagesschlacht in vollkommenster Weise gewachsen. Sie vereinigte in sich große Treffsicherheit infolge großer Rasanz der Flugbahn, Panzerdurchschlagkraft auf große Entfernungen sowie hohe Sprengwirkung mit Hilfe der großkalibrigen Geschosse. Dazu kam, daß die Aufnahme des Kampfes und die Herbeiführung einer Entscheidung auf große Entfernungen durch die Erhöhung der Schußweite der Torpedos auf 3000–4000 m und neuerdings sogar auf 6000 m sowie durch die steten Vervollkommnungen der Mittelartillerie an Treffsicherheit, Durchschlagkraft der Geschosse und Feuergeschwindigkeit zur Notwendigkeit wurde.

Die Kraftkonzentration in der Einheit der schweren Armierung kam unter Englands Führung mit dem Stapellauf des Dreadnought 1906 mit zehn schweren 30,5-cm-Geschützen zum Durchbruch und eröffnete die Aera der Dreadnought-Linienschiffe unter Steigerung des Deplacements und Aufgabe der Mittelartillerie in fast allen Marinen. (Fig. 1.) Wenngleich Deutschland[314] und Japan eine zahlreiche Mittelartillerie von 15-cm-Schnellfeuergeschützen beibehielten, so wurde doch das »All big gun one caliber battle ship« alsbald zur Norm. Nur in der Aufstellung der schweren Geschütztürme traten anfänglich beachtenswerte Abweichungen auf. Die Amerikaner verfolgten von Anfang an den Grundsatz der Aufstellung der schweren Geschütze in der Mittschiffslinie, um diese in ihrer vollen Stärke nach beiden Breitseiten zum Kampf heranziehen zu können. Die Aufstellung der Doppeltürme wurde im Bug und Heck und später auch mittschiffs derart hintereinander angeordnet, daß die nach der Schiffsmitte zu gelegenen erhöhten Türme mit ihren Geschützen über den davor bezw. dahinter angeordneten Turm hinwegfeuern können. Diese Verstärkung des Breitseitfeuers ist in dem taktischen Grundsatz der Formation in Linie begründet, wodurch die Breitseite die größte Feuerintensität zu entwickeln vermag und auf keins der Hauptkampfgeschütze verzichtet werden braucht. Daneben wird das Bug- und Heckfeuer verstärkt und der Raum mittschiffs wiederum zur Aufstellung der mittleren und leichten Artillerie bezw. für weitere schwere Geschütze freigegeben (Fig. 2). Der Uebergang von der gemischten Aufstellung der schweren Geschütze an beiden Bordseiten oder »en échelon«, d.h. mit gegeneinander versetzten Seitentürmen (vgl. Fig. 3) zur reinen Mittschiffsaufstellung hat sich in schneller Folge in allen Marinen vollzogen, und diese letztere ist nunmehr zur Norm geworden, nicht allein für die Linienschiffe, sondern auch für die großen Kreuzer. Daneben geht in allen[315] Marinen eine ständige Steigerung der Geschützkaliber auf 34 cm bezw. 35 cm und neuerdings auf 38 cm einher unter gleichzeitiger Einschränkung der Zahl der schweren Geschütztürme, so daß das moderne Linienschiff sich dem Typ der Linienschiffe um die Jahrhundertwende wieder nähert mit dem Unterschied, daß an Stelle je eines Drehturms mit zwei schweren Geschützen im Bug und Heck je zwei schwere Geschütztürme mit verschiedener Feuerhöhe treten. Auch tritt das Bestreben auf, jeden Geschützturm durch Vermehrung der Geschützzahl im Turm auf drei und vier Geschütze in seiner Feuerintensität zu steigern. Während Italien den Anstoß zur Einführung der Drillingtürme gab (Fig. 4), welche dann von Rußland und Oesterreich aufgenommen wurden, hat Frankreich für seine neuesten Dreadnoughtbauten Vierlingstürme in einer Mittschiffsaufstellung angenommen. Den Vorteilen der Drillings- und Vierlingstürmen, Ersparnisse an Gewicht und Raum sowie eine im Verhältnis zur Geschützzahl kleinere Zielfläche, stehen nachstehende Nachteile gegenüber: größere Gefährdung von Gefechtseinheiten beim Außergefechtsetzen eines Turmes, ungünstiges Drehmoment beim Schuß der seitlichen Rohre allein, Schwierigkeiten in der Munitionszufuhr.

Die Mittelartillerie, welche in den neuen Dreadnoughttypen ganz aufgegeben und allein von Deutschland und Japan richtig eingeschätzt war, findet neuerdings wiederum allgemeine Anwendung, da wegen der steten Erhöhung der Schußweite der Torpedos das Kaliber der leichten Geschütze zur Abwehr des Torpedoangriffs gleichfalls wachsen mußte. Die bisherige Aufgabe der schnellfeuernden Mittelartillerie, Zerstörung des leichten Panzers sowie der ungeschützten Teile des Schiffsrumpfes wie der Aufbauten, Vor- und Achterschiff, Masten, Schornsteine u.s.w., wird daher wesentlich erweitert. Ob jedoch eine vollkommene Verschmelzung der mittleren und leichten Artillerie sich allmählich vollziehen wird, erscheint fraglich, zumal die Entwicklung der Marineluftschiffe und der Wasserflugzeuge ein schnellfeuerndes Ballongeschütz leichten Kalibers erfordert. Immerhin ist begründete Aussicht vorhanden, daß die Geschützarmierung der Linienschiffe und großen Kreuzer wiederum zu einer gewissen Gleichmäßigkeit der Typenentwicklung der Schlachtschiffe führen wird. Das Zukunftsschlachtschiff wird auf ein Maximum an schwerer und mittlerer Artillerie hinzielen, unter Beibehaltung von leichten Geschützen für Sonderzwecke. Die Gliederung in schwere, mittlere und leichte Artillerie dürfte daher bestehen bleiben und zwar schwere Geschütze von 30,5 bis 38 cm, mittlere Geschütze von 14 bis 17 cm und leichte Geschütze von 5 bis 12 cm.


Literatur: [1] Tjard Schwarz, Die Entwicklung des Kriegsschiffbaus. Leipzig 1912. – [2] Huning, Die Entwicklung der Schiffs- und Küstenartillerie. Leipzig 1912. – [3] Nauticus, Die Entwicklung des modernen Kampfschiffes. Berlin 1911. [4] Brassay, The naval annal. 1907–1913. – [5] B. Weyer, Taschenbuch der Kriegsflotten. München 1907–1912.

T. Schwarz.

Fig. 1., Fig. 2., Fig. 3., Fig. 4.
Fig. 1., Fig. 2., Fig. 3., Fig. 4.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 314-316.
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Faksimiles:
314 | 315 | 316
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